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Rainer Maria Rilke

* 04.12.1875 - † 29.12.1926


Zitate von Rainer Maria Rilke

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Bis wohin reicht mein Leben
(Die Liebende)

Das ist mein Fenster. Eben
bin ich so sanft erwacht.
Ich dachte, ich würde schweben.
Bis wohin reicht mein Leben,
und wo beginnt die Nacht?
 
Ich könnte meinen, alles
wäre noch Ich ringsum;
durchsichtig wie eines Kristalles
Tiefe, verdunkelt, stumm.
 
Ich könnte auch noch die Sterne
fassen in mir; so groß
scheint mir mein Herz; so gerne
ließ es ihn wieder los.
 
den ich vielleicht zu lieben,
vielleicht zu halten begann.
Fremd, wie nie beschrieben
sieht mich mein Schicksal an.
 
Was bin ich unter diese
Unendlichkeit gelegt,
duftend wie eine Wiese,
hin und her bewegt,
 
rufend zugleich und bange,
daß einer den Ruf vernimmt,
und zum Untergange
in einem Andern bestimmt.


Darfst das Leben mit Würde ertragen,
nur die Kleinlichen macht es klein;
Bettler können dir Bruder sagen,
und du kannst doch ein König sein.


Ich hab das "Ich" verlernt und weiß nur: wir.
Mit der Geliebten wurde ich zu zwein;
und aus uns beiden in die Welt hinein
und über alles Wesen wuchs das Wir.
Und weil wir Alles sind, sind wir allein.


Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.


Denn wir sind nur die Schale und das Blatt: Der große Tod, den jeder in sich hat, das ist die Frucht, um die sich alles dreht.


Und wir sind ganz allein im Garten, Drin die Blumen wie Kinder stehn, Und wir lächeln und lauschen und warten, Und wir fragen uns nicht, auf wen.


Der Weg zu Gott ist furchtbar weit und, weil ihn lange keiner ging, "verweht".


Wo der Weise bestrebt ist, Rätsel zu lösen, da hat der Künstler eine noch bei weitem größere Aufgabe, oder, wenn man will, ein noch größeres Recht. Des Künstlers Aufgabe ist es, das Rätsel zu -lieben. Das ist alle Kunst: Liebe, die sich über Rätsel ergossen hat -und das sind alle Kunstwerke: Rätsel, umgeben, geschmückt, überschattet von Liebe.


Quelle: "Weisheiten der Welt." Herausgegeben von Alfred Grunow. Bd. 1. Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung, Berlin


Vorgefühl

Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben.
Ich ahne die Winde, die kommen, und muß sie leben,
während die Dinge unten sich noch nicht rühren:
die Türen schließen noch sanft, und in den Kaminen ist Stille;
die Fenster zittern noch nicht, und der Staub ist noch schwer.
 
Da weiß ich die Stürme schon und bin erregt wie das Meer.
Und breite mich aus und falle in mich hinein
und werfe mich ab und bin ganz allein
in dem großen Sturm.


Unser Wille ist nur der Wind, der uns drängt und dreht, weil wir selber die Sehnsucht sind, die in Blüten steht.