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G wie Gläubigkeit

‚Die Ungläubigkeit ist zuweilen das Laster eines Dummkopfs und die Gläubigkeit das Gebrechen des geistvollen Menschen. Der geistvolle Mensch sieht weit in der Unendlichkeit Mögliches. Der Dummkopf sieht gar kein anderes Mögliche als das, was ist.’

Dies behauptete Diderot. Hatte Diderot recht? Ja und nein.
Ja: Der Dummkopf sieht tatsächlich nur das als möglich an, was ist, beziehungsweise das, was in dem von der Natur abgesteckten Rahmen seiner sinnlichen und gedanklichen Erlebenswelt in Erscheinung treten kann. Ein geistvoller Mensch vermag diesen Bezugsrahmen gelegentlich zu sprengen.
Nein: Es ist keine Frage von geistreich oder dumm. Bis in die letzte Konsequenz ausgelebte Gläubigkeit führt letzten Endes fast unvermeidlich zur Ungläubigkeit, wie die Fülle einer Hälfte der Eieruhr nach Hindurchrieseln des Sandes zwangsläufig zur Leere führt. Bedingungslose Gläubigkeit kann nur zur Leere im Glauben führen, weil die Proben und Versuchungen, die ständig an diese Gläubigkeit herangetragen werden, mit der Zeit jedes menschliche Maß übersteigen und so die Gläubigkeit erschöpfen, es sei denn, der Glaube eines Menschen nimmt wahnbehaftete, pathologische Züge an. Mit der Ungläubigkeit verhält es sich ebenso. Völlige Ungläubigkeit kann nicht lange Bestand haben, weil sie eine Leere voraussetzt, die unerbittlich darauf pochen wird, ausgefüllt zu werden, der Mensch dreht also seine innere Eieruhr um.
Das Beispiel zeigt die innere Zerrissenheit des Menschen auf, sein Pendeln zwischen Zweifeln und Hoffen, Glauben und Resignieren. Im Gegensatz zu Gläubigkeit und Ungläubigkeit aber ist Dummheit irreversibel.


Quelle: "Fletcher's Zynisches Wörterbuch oder Zaungarstige Gedanken"
© Werner Fletcher
Werner Fletcher