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N wie Numen

In jedem Menschen, wahrscheinlich auch in jedem höher entwickelten Tier, muß in den unbewußten Tiefen seiner Seele die Vorstellung von etwas ungeheuer Bedeutsamem leben, von etwas, das hinter allen Götzenbildern und Gottesvorstellungen, hinter allen Lügen und Irrtümern, hinter Philosophengeschwätz und Pfaffengestammel, hinter in Selbstüberschätzung schwelgender wissenschaftlicher Salbaderei in unangreifbarer Souveränität existiert, ein Numinoses, Unfaßbares, die Idee eines Unerhörten, das über Geist und Materie, über dem Tod und dem Leben steht. Und nur der Gedanke daran, das Wissen – oder sagen wir besser – die Ahnung um die Existenz dieses Numinosen zu verlieren, wäre weit furchtbarer für jeden Menschen, als das Leben selbst zu verlieren.
Könnte sich der Mensch von dieser Zwangsvorstellung befreien, dann vermöchte er wenigstens einem Phänomen auf seiner ewigen Suche nach Sinn einen solchen Sinn zu geben: dem Tod. Dem Tod verstanden als das endgültige Verlöschen eines sinnentleerten Funkens kurz aufglimmenden Bewußtseins. Ein Tod, der durch seinen Sinn der Sinnlosigkeit des Lebens ein Ende setzt.


Quelle: "Fletcher's Zynisches Wörterbuch oder Zaungarstige Gedanken"
© Werner Fletcher
Werner Fletcher